Senntum

Sennisch

Nach langen Monaten unter Schnee beginnt das Tal wieder zu atmen. Hänge und Matten zeigen frisches Grün, und mit dem Rückzug der weissen Decke erwacht ein neuer Abschnitt im bäuerlichen Jahr. Es ist die Zeit des Alpaufzugs, im Toggenburg «Öberefahre» genannt. Ein Zug aus Farben und Klängen, der im ersten Licht des Tages seinen Weg bergwärts nimmt. Hier begegnen sich Natur, Arbeit und Brauchtum auf eine Weise, die unverkennbar ist.

Geführt von den Kindern der Familie – den Geissbuben oder Geissmeitli – ziehen die Geissen an der Spitze. Die Toggenburger Geiss ist eine alte Schweizer Rasse mit Ursprung im Tal. Ihr braunes Fell trägt weisse Streifen am Kopf, an Beinen und an der Schwanzspitze – die typischen «swiss markings». Robust und genügsam, geht sie sicher über steiles Gelände und hat sich längst über die Region hinaus verbreitet. Hinter den Geissen schreitet die Leitkuh. An ihrem Hals hängt die grösste Schelle, deren Ton das Klanggefüge vorgibt. Zwei weitere Schellenkühe stimmen dahinter mit ein, ihre drei Schellen sind im Dreiklang gestimmt. Bei den Kühen dominiert im Toggenburg das Schweizer Braunvieh – trittsicher und widerstandsfähig, mit einer Milch, die besonders in der Käseherstellung geschätzt wird.

Es folgen die Knechte im Sennenkleid. Sie tragen entweder die braunen Ladenhosen aus Wollstoff oder die «Geele», die gelben Hosen aus Hirsch- oder Rossleder. Beim Alpaufzug sind es stets nur zwei Sennen, die in den «Geele» gehen – so verlangt es die Tradition, und so wird es auch beim «Schelleschötte» im Jodelchor gehalten. Zu beiden Hosen gehören die rote Weste, das «rot Broschttuech», die ledernen Hosenträger mit ihrer Messingzier – «Bschlage» genannt – und das weisse Hemd. Ein Silberknopf mit dem «Chüeli» schliesst den Kragen. Auf dem Kopf sitzt der «Fladehuet» aus schwarzem Filz, geschmückt mit einem Strauss aus bunten Blumen und farbigen Bändeln: zwei roten, einem gelben und einem grünen.

Am Ende des Zuges geht der Senn in braunen Ladenhosen. Er gilt als Oberhaupt der Familie, trägt die Verantwortung für Mensch und Tier und hält die Ordnung. Sein Platz am Schluss ist nicht zufällig: von dort überblickt der den Zug, achtet auf Ruhe in der Herde und sorgt dafür, dass niemand zurückbleibt. Zum roten Brusttuch trägt der Senn im Toggenburg ein besonderes Stück: eine lange Silberkette, die vorn durch ein Knopfloch geführt wird und an der die «Chüeliuhr» hängt. Daran befestigt ist oft auch der Schlüssel, mit dem die Uhr aufgezogen wird. Am linken Ohr glänzt ein Ringlein aus Rotgold. Nach alter Vorstellung soll es das Gehör schärfen, manchmal auch in Form eines kleinen Kühleins, eines Sterns oder Knopfs. Das rechte Ohr schmückt eine sich selbst schliessende Schlange. Beim Öberefahre hängt daran der Schumer – eine winzige Rahmschöpfkelle aus Silber und kunstvoll gearbeitet.

Zwischen den Tieren gehen auch die Frauen der Familie. Sie leiten die Kälber, halten die Kühe zusammen und sorgen dafür, dass der Zug geordnet bleibt. Gekleidet sind sie in ihrer blauen Werktagstracht. Diese besteht aus dem wertvollen Bühlstoff, einem dichten Wollgewebe, das traditionell im Nesslauer Bühl hergestellt wurde. Dazu tragen sie eine Schürze und das schlichte Haubentuch, das Haar ist sorgfältig gesteckt.

Hinter der Herde rollt der Lediwagen. Er trägt das Sennereigeschirr, das für den Alpsommer unverzichtbar ist – Kübel und Bottiche aus der Weissküferei, Käseformen, Melkeimer und anderes Handwerkzeug. Alles ist sorgfältig verstaut.

Von den Männern angestimmt, ertönt ein Johle über dem Zug. Der Naturjodel braucht keine Melodie, sondern lebt vom Wechsel zwischen Brust- und Kopfstimme. Kräftig mischt er sich mit dem Klang der Schellen. Ein Ausdruck des Zusammenhalts, zwischen den Menschen selbst, mit den Tieren und mit der Landschaft, durch die sie ziehen.

Wenn die Weiden im Herbst erschöpft sind, ziehen Mensch und Tier zurück ins Tal. Der Abstieg, der Alpabzug, folgt derselben Ordnung wie der Auftrieb. Auch hier sind Tiere, Menschen und Gerät in Reihe, Schellen und Tracht begleiten den Weg.
Den Abschluss bilden die Viehschauen. Hier werden die schönsten Tiere vorgestellt und von erfahrenen Preisrichtern beurteilt – nach Körperbau, Milchleistung und Gesamteindruck. Für die Bauernfamilien sind diese Tage von grosser Bedeutung, denn sie zeigen die Früchte des Alpsommers und die Sorgfalt in der Zucht. Zugleich sind die Schauen ein Treffpunkt für das Dorf. Man tauscht Neuigkeiten aus, begutachtet die Tiere der Nachbarn und geniesst die Geselligkeit, die diesen Tag umgibt.

Alpaufzug, kühe, Sennen, sonnig, unbearbeitet 2024

Senntum im Toggenburg

Mit dem Sommer beginnt im Toggenburg das Öberefahre

Wenn die Matten saftig grün sind, ziehen die Bauernfamilien mit ihrem Vieh z’Alp – ein Brauch, der tief in der Kultur verankert ist und jedes Jahr aufs Neue begeistert. Vorne die Ziegen, begleitet von Geissbueb oder -meitli. Dahinter führt die Leitkuh die Herde an, mit der grössten Schelle um den Hals, gefolgt von zwei weiteren Schellenkühen. Das Johle – ein leise angestimmter Naturjodel – begleitet den Aufstieg und verleiht dem Moment ein besonderes Heimatgefühl.
Die Toggenburger Geiss – robust, genügsam und unverkennbar – prägt seit jeher die Alpen der Region ebenso wie das Schweizer Braunvieh, das mit Trittsicherheit und Widerstandskraft perfekt an das alpine Gelände angepasst ist. Sie pflegen die Bergwiesen, halten die Weiden offen und tragen so zur Vielfalt der Pflanzenwelt bei.
Im Herbst kehren Mensch und Tier ins Tal zurück. Die Viehschauen krönen den Abschluss des Alpsommers – eine Bühne für den Stolz der Bauern, die ihre Tradition mit Leidenschaft weitertragen.

«S’Gwand isch nüt för d’Vitrine, das ghört use» – die Toggenburger Tracht

Alpaufzug, Viehschau, Jodlerobet oder Älpler-Chilbi. Unter der Woche und an Feiertagen. Toggenburger zeigt sich im Sennegroscht. Männer tragen ein rotes Broschttuech, braune Ladehose und ein fein besticktes Chüelihemd. Schwarze Hosenträger glänzen mit Messingzier (dä Bschläglig), dazu kommt die Silberkette mit Chüeliuhr und -schlüssel, der Sennenring und der Schlangenkopf mit Schumer. Ergänzt wird s’Sennegwand durch den Fladehuet aus schwarzem Filz. Werktags greift Mann zum Herzschlüüfer aus Zwilch und zum Edelweisshemd. Zur Sonntagstracht der Frauen gehören schwarze Flügelhuube, weisse Leinenbluse, besticktes Mieder und Rock aus schwarzem Wollserge, eine Schürze aus Taffetseide sowie Silberschmuck. Schlichter wirkt die blaue Werktagstracht: mit Rock aus Nesslauer Bühlstoff, gestreifter Baumwollschürze und weissem Fichu. Und immer gehören weisse Strümpf und schwarze Trachteschueh mit Silberschnalle dazu. Als eine der wertvollsten Schweizer Trachten ist sie kein Brauchtum zum Vorzeigen – sondern Ausdruck von Stolz und Zugehörigkeit.